Ihre Jugend war geprägt von einem vielfältigen künstlerischen Wissensdurst und verschiedensten artistischen Neigungen. Was hat schlussendlich den Ausschlag zugunsten des Komponierens gegeben?
Im Grunde genommen bin ich ein Geschichtenerzähler. Deshalb denke ich manchmal, dass ich vielleicht Schriftsteller hätte werden sollen. Auch bin ich ein sehr visueller Mensch und sehe beim Hören von Musik oft Landschaften oder andere Bilder. Seit frühester Kindheit hat mich diese Seite der Musik fasziniert; ihre Fähigkeit die Fantasie zu erwecken und Geschichten zu erzählen – Prokofjews «Peter und der Wolf» und Mozarts «Zauberflöte» standen am Anfang dieser Liebe. Schon immer hat mich die Oper als Kunstform besonders eingenommen – dass ein Drama gänzlich durch Musik und Gesang vermittelt werden kann, übt eine starke Faszination auf mich aus.
Was fasziniert Sie am Komponieren? Was möchten Sie mit Ihren Stücken zum Ausdruck bringen?
Komponieren ist eine sehr herausfordernde Sache, da das Resultat völlig offen ist und nur ich selbst darüber entscheiden kann, welche Noten geschrieben und welche weggelassen werden sollen. Dabei sind die kompositorischen Möglichkeiten bei jeder musikalischen Phrase, jedem Takt, jeder Note beinahe endlos. Für mich ist das eine gute Übung, denn eigentlich fällt es mir nicht leicht, Entscheidungen zu treffen.
Diese grosse Freiheit, die wir in der zeitgenössischen Musik haben, birgt viel Potenzial, bringt aber auch Probleme mit sich. In meinem Kompositionsstudium an der Hochschule für Musik Basel wurde mir in meinem sechsjährigen Studium vermittelt, wie problematisch es ist, dass mir die Musik toter Komponisten, besonders diejenige, die zwischen 1800 und 1930 geschrieben wurde, nähersteht als die zeitgenössische Musik. Lange habe ich mir diese Kritik zu Herzen genommen und mich daraufhin hinterfragt. Unterdessen habe ich jedoch begriffen, dass es den meisten Klassikliebhabern gleich geht und die Musikgeschichte, was die westliche Kunstmusik betrifft, im kollektiven Bewusstsein quasi mit dem zweiten Weltkrieg zu Ende ist. Das ist doch eine Katastrophe! Wenn wir so weitermachen, wird unsere Kunst tatsächlich sterben.
Meiner Meinung nach ist die Musik die emotional unmittelbarste Kunstform. Viele Menschen berichten von sehr starken emotionalen Erlebnissen, wenn sie Musik hören, die einen solchen unmittelbar emotionalen Zugang ermöglicht. Dies ist bei einem grossen Teil der zeitgenössischen Kunstmusik nicht der Fall.
Denn im Gegensatz zu einem Buch, Theaterstück oder Film, die dank der klar verständlichen Sprache intellektuell relativ schnell fassbar werden, operiert die Musik abstrakter und geheimnisvoller. Indem man in der modernen Musik versucht hat, alle bestehenden Regeln abzuschaffen, wird diese von den Hörerinnen und Hörer nicht mehr verstanden und ist so emotional kaum noch greifbar. Das ist etwa so, wie wenn man sich zwingen würde, ein Buch in einer Sprache zu lesen, die man nicht versteht – besonders befriedigend ist das nicht.
Mir ist es im Grunde genommen egal, in welchem Stil andere komponieren, allerdings stehe ich diesem Originalitätswahn in der modernen Musik zunehmend kritischer gegenüber, da ich nicht der Meinung bin, dass das Rad bei jeder Komposition neu erfunden werden muss. Auch glaube ich, dass das Resultat dieser Entwicklung ihr Ziel verfehlt.
Denn die so laut gepriesene, noch nie dagewesene Freiheit hat uns ganz an den Rand des kollektiven Bewusstseins gebracht, wobei wir das Feld anderen Musikstilen, wie der Popmusik, überlassen haben. Das finde ich schade.
Meine kompositorische Ambition ist es, eine handwerklich solide, klangschöne Musik zu schreiben, die einerseits komplex und vielfältig ist, anderseits aber auch unmittelbar greifbare Inhalte vermittelt und dazu emotional und expressiv ist. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich versuche die Musik zu schreiben, die ich selbst gerne im Konzert hören möchte. Dabei sind die Konzepte und ästhetischen Diskurse, die in der zeitgenössischen Komponistenwelt verbreitet sind, grösstenteils irrelevant für mich.
Die Lyrik scheint in Ihrem Schaffen eine grosse Rolle zu spielen. Welche Dichter inspirieren Sie? Und was haben diese beiden Kunstformen gemeinsam und wie ergänzen sie sich?
Von allen Dichtern stehen mir die Finnlandschwedin Edith Södergran, der Österreicher Georg Trakl, der Amerikaner Walt Whitman und der Franzose Charles Baudelaire am nächsten. Auch schätze ich die Anti-Kriegsgedichte von Dichtern wie dem Briten Wilfred Owen sowie einige Gedichte seines Landsmannes Alfred Lord Tennyson. Für mich hat gute Lyrik eine Musikalität und Melodie in der Sprache und genauso hat die Musik, die mir am nächsten steht, einen stark poetischen Charakter. Beide Kunstformen sind also eng miteinander verbunden. Schon seit Urzeiten haben Menschen lyrische und epische Texte für sich selbst und andere gesungen.
Aus diesem Grund faszinierte es mich, alte Volksmusik aus verschiedenen Kulturen zu studieren. Es ist unglaublich, mit welchen Dingen man dabei konfrontiert wird, und man fragt sich dabei, welche Schicksale, Erlebnisse und Mythologien da wohl miteingeflossen sind und was diese über die jeweilige Kultur aussagen können.
Auch sonst bin ich ein eifriger Leser, wobei es mich immer zu Texten mit poetischer Qualität hinzieht. Meine Lieblingsbücher sind zum Beispiel «A Kestrel for a Knave» von Barry Hines, die «See-Leben»-Trilogie von Werner Koch, die ich dank Georg Freivogel, dem ehemaligen Chef des BücherFasses in Schaffhausen, für mich entdeckt habe, sowie Fantasy-Epen wie Tolkiens «Lord of the Rings» und Ursula K. Le Guins «Erdsee-Zyklus».
Vom Musik-Collegium Schaffhausen haben Sie vor vier Jahren einen Kompositionsauftrag bekommen. Daraus ist GAIA entstanden, ein symphonisches Triptychon, das nun in Schaffhausen uraufgeführt wird. Worum geht es in diesem Werk und was hat Sie dazu inspiriert?
Das Werk ist ein Zyklus von drei symphonischen Tondichtungen, die jeweils anhand von drei lebenden Organismen – der Alge Volvox, der Honigbiene und des Grönlandwals – das Leben auf unserer Erde thematisieren; die Schönheit der Natur und ihrer Kreaturen, aber auch die vom Menschen verursachte ökologische Katastrophe, die sich immer stärker abzeichnet.
Das Werk ist also eine Mischung aus Liebeserklärung, Trauergesang und Wut- und Verzweiflungsschrei. Nachdem ich jahrelang im Bereich des Umweltschutzes und des Tier-Rechtsschutzes (oder eben der Inexistenz dieses) tätig war, habe ich in den letzten Jahren sprichwörtlich die Hoffnung und damit auch meine Motivation verloren. Seit der Corona-Pandemie scheint sich gerade mal noch eine kleine Minderheit der Gesellschaft für die Klimakrise zu interessieren. Parteien, die nicht dezidiert grün sind, haben das Thema wieder fallenlassen, und das Infragestellen und Verleugnen von wissenschaftlich fundierten Fakten wird zunehmend wieder salonfähig. Dies nicht zuletzt, weil die Welt zunehmend von verrückten und unstabilen Männern regiert wird. Das macht mir grosse Sorgen. Deshalb habe ich versucht, meine Verzweiflung in kreativer Weise umzusetzen und meinem Engagement in meiner Kunst Ausdruck zu verleihen. Denn in Zeiten wie diesen ist Kunst umso wichtiger!
Jeder der drei Sätze kann als Tongemälde beschrieben werden, das jeweils von einem Naturphänomen ausgeht und dessen Narrativ als Symbol für etwas Umfassenderes verwendet wird. Wie kann man sich diesen Schaffungsprozess vorstellen? Können Sie uns das anhand eines der drei Sätze vor Augen führen?
Die Volvox ist eine winzige Alge, eine kugelförmige Kolonie von Zellen, in deren Innern neue Volvox-Kugeln heranwachsen, bis die Mutterkolonie platzt und stirbt und die nächste Generation ins Freie entlässt. Ich benutze dies als Symbol für den ewigen Kreislauf des Lebens und für das ursprüngliche Entstehen allen Lebens im Wasser. Dieses Bild dient mir dann auch beim Komponieren: Wie in der Volvox wachsen im Orchester verschiedene Gruppen von Zellen heran, und der Satz ist als gewaltiges Crescendo bis zur unvermeidlichen Explosion komponiert. Volvox bedeutet auf Latein «Die Rollerin», wegen ihrer rollenden Fortbewegung im Wasser, und diese rollenden Bewegungen sind, genauso wie diejenigen des Wassers, in der Komposition hörbar.
Wasser spielt auch im dritten Satz eine Rolle, der als Hymne an die Schönheit der Natur und die Hoffnung auf ihre Überlebenskraft angelegt ist. Symbolisch dient mir dafür eines der faszinierendsten Tiere überhaupt, der Grönlandwal, der den wunderschönen lateinischen Namen Balaena Mysticetus trägt. Der Grönlandwal ist ein genetischer Superheld. Er ist genetisch immun gegen Krebs und kann über 200 Jahre alt werden. Also genau das perfekte «Totemtier» für Resilienz, Majestät und Schönheit. Dazwischen steht der zweite Satz, die Schreckensvision einer von Menschen verwüsteten Erde, für die das Bienensterben als symbolischer Aufhänger dient.
Das Interview führte Karin Labhart